wieder und wieder einen Super-8-Film ansehen, in dem mir und meiner Freundin Erdbeeren aus dem Mund genommen werden, worauf wir rückwärts durch einen Garten laufen und dabei kleiner und kleiner werden ∞

wieder und wieder einen Super-8-Film ansehen, in dem mir und meiner Freundin Erdbeeren aus dem Mund genommen werden, worauf wir rückwärts durch einen Garten laufen und dabei kleiner und kleiner werden ∞

L E S E N

  • sich beim Spielen berühren, gegeneinanderstoßen bei einer schnellen und beiläufigen Bewegung, unbeabsichtigt und zufällig, im Vorbeigehen, und doch aufblicken und hinterhersehen, der Berührung nachspüren, am Arm oder an der Schulter oder auch am Oberschenkel, am Knie, und dabei unmerklich langsamer werden, die Berührung festhalten wollen und dann plötzlich nicht mehr können, müde sein, keine Luft mehr bekommen oder stolpern und hinfallen und sich verletzen und Hilfe brauchen – sich fangen lassen, die Hände sind warm und fest und bestimmt und das Gefühl bleibt noch lange nach, auf den Schultern und auf den Oberarmen, es strahlt bis in den Oberkörper und bis in den Kopf und auch in die Beine, auch später noch, wenn wir längst auseinandergegangen sind, wenn ich zu Hause bin und Abendbrot esse und Zähne putze und ins Bett gehe, mit unsicheren Knien und flattrigen Fingern und diesem warmen Gefühl auf den Schultern und an den Armen und am Kopf
    Aus: Jahrbuch der Lyrik 2022, hrsg. von M. Kniep u. N. Küchenmeister, Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2022

    am Amazonas leben, die nackten Füße auf dem morastigen Boden zwischen Baumwurzeln und Kletten und Schlingpflanzen und Farnen, an meinen Beinen Ameisen, Dornen an den Armen, ich schiebe mich zwischen Baumstämmen hindurch, krieche unter herabhängende Äste, ich bin unsichtbar und unhörbar, meine Haut hat die Farbe des Bodens, die Haare sind so dunkel wie die Stämme der Bäume, ich verwische meine Spuren im Gehen und dann steige ich in eine Schlinge aus Lianen und klettere auf einen Baum, ich esse Früchte und Nüsse und Honig und ich kann den Wald von oben sehen, die Kronen der Bäume, einen Fluss, und dann wieder Bäume, bis zum Horizont nur das grüne Meer des Waldes

    einen Stein in einen Fjord werfen, in Norwegen, das dumpfe Geräusch, wenn der Stein die Wasseroberfläche durchbricht, die Wellen, die sich kreisförmig nach außen fortpflanzen und dann langsam wieder kleiner und flacher werden, bis die Wasseroberfläche wieder glatt ist, die Schatten der Berge wieder zu erkennen sind und dann zu zittern beginnen, weil ein Windstoß das Wasser streift, als ziehe ein fernes Beben über die dunkle Oberfläche, die sogleich wieder still und dunkel daliegt, sofern die Sonne nicht herauskommt und alles glänzt und glitzert und sogar die Berge mit einem goldenen Rand versehen sind und man alles aufsaugen, festhalten möchte, während der Stein noch immer fällt, im Dunkeln, in der Tiefe des Fjords und ohne dass eine Bewegung an die Oberfläche dringt, so dass man nie erfahren wird, wann er unten angekommen ist, weil der Fjord so tief ist, wie die Berge um ihn herum hoch sind
    Aus: kleine dinge, Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg, Hamburg 2021

    mit dem Vater Chips essen und Fernsehen gucken, nebeneinander auf dem Sofa sitzen und es ist nur der Fernseher zu hören und das Rascheln und Knacken der Chips, auch wenn wir nie zusammen fernsehen und auch nie Chips essen und schon gar nicht beides zusammen und auf dem Sofa und obwohl ich nicht krank bin oder traurig und allein, und dann so nah nebeneinandersitzen, dass die eine Körperseite ganz warm wird und die Wärme bis in die andere Seite strahlt, und dabei immer müder und müder werden
    Erscheint in: konzepte, Zeitschrift für Literatur Nr. 41

    aus einem Café aufbrechen und beim Anziehen der Jacke in die Augen des Mannes am Tisch hinter mir blicken, unbeabsichtigt und direkt einander in die Augen fallen, während die Hand nach der Öffnung des Jackenärmels tastet und sich im Futter verfängt, und dann endlich die Ärmelöffnung finden und mit verzogenem Futter in einer jetzt viel zu engen Jacke nach der Tasche greifen und losgehen, den Blick im Rücken spüren und dann den Ausgang nicht finden und nochmals zurückkehren und den Kellner fragen und verlegen lachend und mit stolpernden Schritten zum Ausgang gehen, die Tür aufstoßen, um auf der Straße sogleich die Tasche abzustellen, die Jacke auszuziehen, das Futter zu richten und die Jacke wieder anzuziehen und dabei den Oberkörper zur Seite zu drehen und mit den Augen durch die gläserne Fensterfront des Cafés erneut in die Augen des Mannes am Nebentisch des Tisches, an dem ich gerade noch gesessen habe, fallen, so dass ich schnell weitergehe, während ich dem Gefühl des Blickes nachspüre, das jetzt schon schwächer wird, ein Hauch nur noch, und ich am liebsten umkehren und nochmals in das Café gehen und die Jacke ausziehen und mich wieder setzen möchte
    Aus: kleine dinge, Verlagsgesellschaft der Stiftung Historische Museen Hamburg, Hamburg 2021

    ein Buch aufschlagen, nur ein paar Zeilen lesen und ankommen und richtig sein, als sehe man auf Jahrtausende alte Höhlenzeichnungen von Menschen, die wissen wollten, woher sie kommen und wer sie sind, als sähen sie in einen Spiegel oder die Kugel einer Wahrsagerin oder besser noch dahinter, an einen Ort, an dem es einen Grund gibt, einen Boden und eine Antwort
    Erscheint in: konzepte, Zeitschrift für Literatur Nr. 41

  • Am Wasser bin ich allein. Es glitzert in der Sonne und wenn sich das Schilf im Wind bewegt, zieht ein Vorhang heller Lichter durch die Luft. Kleine Wellen laufen über die Wasseroberfläche. Im Schatten ist das Wasser tief und dunkel und schwer, doch wenn man genau hinsieht, kann man am Boden des Teiches Äste erkennen und Laub, das schon ganz braun ist und matschig, und direkt an der Uferböschung liegt auch eine Flasche im Wasser, sie ist auch braun und voller Algen und sie ist mir unheimlich. Ich stelle mir vor, dass vielleicht ein Geist in der Flasche ist, und der käme heraus, wenn ich die Flasche aus dem Wasser holte, er wäre riesig und verstellte den Himmel und vor allem wäre er zornig, wie die Geister in Tausendundeiner Nacht. Und wie in Tausendundeiner Nacht würde ich ihm sagen, dass ich nicht glauben könne, dass er in die Flasche gepasst hätte, und dann würde er wieder hineinschlüpfen und ich könnte die Flasche schnell zurück ins Wasser werfen. Aber besser wäre es, sie gleich dort liegen zu lassen und in Sicherheit zu sein, und überhaupt sollte ich künftig einen Bogen um die Flasche machen und am besten auch gleich um den Teich. Ich gehe aber doch immer wieder hin. Und auch die Flasche muss ich immer wieder ansehen. Und dann muss ich auch daran denken, sie vielleicht herauszuholen.

    Die Sonne ist warm und hell und gleißend. Ich kneife die Augen zu Schlitzen zusammen, bis es flimmert. Wenn ich sie wieder öffne, flimmert es noch mehr; ich kann nichts sehen, weil alles voller heller Blitze ist, und meine Beine sind ganz zittrig. Als käme ich von weither, von einem anderen Stern oder aus einem anderen Leben oder aus einer anderen Zeit.
    Immer wieder muss ich in die Sonne sehen und es vor den Augen blitzen lassen, obwohl wir das nicht tun sollen, weil es nicht gut für die Augen ist und weil man blind werden kann, aber ich mache es trotzdem. Wenn ich wieder weg sehe, flimmert es vor den Augen, ich bin wacklig auf den Beinen und das ist gruslig und aufregend zugleich. Ich halte mir erst das eine Auge zu und dann das andere und sehe dabei meine Beine an oder einen Grashalm und jedes Mal bin ich doch nicht blind geworden, obwohl ich jetzt richtig Angst bekommen habe.

    Lass uns Pferd spielen, ruft meine Freundin, willst du das Pferd sein oder der Reiter? Sie lacht, sie hat Zügel mitgebracht, eine Satteldecke und eine Karotte und sie steht vor mir und wartet. Ich kann nicht antworten. Ich kann ihr nicht sagen, dass das komisch ist, komisch und peinlich und dass ich nicht will, dass sie mich fragt und dass die anderen es mitbekommen und grinsen. Auch wenn wir jedes Jahr Pferd gespielt haben, Pferd und Reiter. Manchmal waren wir auch beide die Reiter, wir hatten zwei Pferde und wir hatten ein Fohlen dabei oder zwei und einen Hund und Schafe. Wir haben die Schafe von einer Weide auf die nächste getrieben und der Hund hat uns geholfen. Abends, wenn wir im Stroh übernachtet haben, hat er sich zu uns gelegt, auf unsere Füße oder direkt neben uns, und so haben wir keine Angst gehabt, obwohl es dunkel war und unheimlich. Wir haben die Pferde schnauben hören und das leise Atmen der Schafe haben wir auch gehört, und dann sind wir irgendwann eingeschlafen.

    Bienen summen im Garten. Sie fliegen von Blüte zu Blüte, krabbeln in die tiefen Kelche und kommen rückwärts und mit dicken Batzen Blütenstaub beladen wieder hervor. Schwer und schwankend erheben sie sich in die Luft, steigen höher und höher. Wir kneifen die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und folgen ihrem torkeligen Flug, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. Dann drehen wir uns langsam um, sehen zu den Seiten und stecken die Finger rasch in die Kelche der Blüten. Wir fahren tief hinein und ziehen sie gleich wieder heraus, die Körper gekrümmt, so dass die Finger den Blicken entzogen sind. Sie sind gelb geworden und klebrig und wir mögen nicht an ihnen riechen und den Mund möchten wir mit ihnen auch nicht berühren. Schnell streichen wir sie an den Hosen wieder ab.

    Beim Reiten hebt mich einer der Jugendlichen aufs Pferd. Plötzlich umfassen mich zwei Hände von hinten und setzen mich in den Sattel. Es geht so schnell, dass ich nicht einmal sehen kann, wer es ist. Ich traue mich nicht, mich umzublicken, ich kann nichts sagen und mit dem Kopf nicken kann ich auch nicht. Ob es der Große war, der mit den dunklen Locken, den ich auch vorher schon öfter gesehen habe und der eine so tiefe Stimme hat, dunkel und weich? Seine Hände können meinen Körper fast umschließen. Es sind große kräftige Hände, die sich warm anfühlen und fest und schwer und denen ich noch lange nachspüre, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht und auch in den folgenden Nächten und obwohl es peinlich ist. Immer wieder muss ich an die Hände denken. Und dass es bestimmt die Hände von dem Jungen mit den dunklen Locken waren. Und zum Reiten will ich auch wieder gehen.

    Wir sind eingeladen, bei Freunden der Eltern, es gibt Kaffee und Kuchen und wir sitzen im Garten, an einem Holztisch zwischen blühenden Stauden. Wir haben hier schon oft gesessen, sie haben eine große Schaukel, wir dürfen mit den Spielsachen ihrer großen Kinder spielen und vor allem ist da der Obstgarten mit den Johannisbeersträuchern und den Erdbeeren, von denen wir so viel naschen dürfen, wie wir Lust haben. Doch diesmal mag ich nicht aufstehen. Ich kann nicht sagen, was es ist. Etwas lässt mich nicht vom Stuhl aufstehen, obwohl die Geschwister rufen, obwohl ich mich auf die Johannisbeeren gefreut habe und auf den Kirschbaum und obwohl die Gespräche der Erwachsenen langweilig sind. Ich versuche die Krümel auf meinem Teller zusammenzuschieben und aufzustippen, es werden immer weniger, ich schiebe eingebildete Krümel zusammen, und ich muss immer wieder zu meiner Mutter sehen. Sie hat ihren Kuchen kaum angerührt. Ihre Augen sind auf den Gastgeber gerichtet, sie lacht und nickt und sie sieht nicht, dass ich immer noch am Tisch sitze. Ich mag es nicht, wenn sie so lacht, aber aufstehen kann ich auch nicht.

    Einmal fahren wir an die Grenze. Wir steigen auf einen Aussichtsturm und sehen auf die andere Seite. Wir sehen den Todesstreifen und die Zäune und Wege dahinter und noch weiter, über die Felder in die Landschaft. Eigentlich sieht es genauso aus wie auf unserer Seite. Schräg vor uns steht ein Wachturm mit Grenzern. Sie sind so nah, dass sich unsere Blicke fast begegnen. Meine Schwester und ich stehen lange draußen auf der Plattform; wir gehen ein wenig zur einen und ein wenig zur anderen Seite, wir beugen uns über das Geländer und lachen und lehnen uns wieder zurück, obwohl es zugig ist und kalt und obwohl die Eltern bereits wieder hinunter gegangen sind und auf uns warten. Als wir schließlich wieder unten sind, sehen wir noch einmal zu den Grenzern hoch; jetzt kann man nicht viel mehr erkennen als zwei dunkle Oberkörper, die sich oben auf dem Wachtum hin und her bewegen.

    Mein kleiner Bruder läuft durch den Garten. Er will mit meiner Freundin und mir spielen. Immer will er dabei sein und alles mitmachen. Er ist uns lästig; er ist zu langsam und versteht immer nicht und dann läuft er uns zwischen den Beinen herum und nackt ist er auch. Den ganzen Sommer läuft er nackt herum und das stört uns und gleichzeitig müssen wir immer hinsehen, seinen Penis ansehen, der viel zu klein ist für die großen Hoden und der beim Laufen hin und her wackelt und komisch aussieht. Wir sehen ihn an und sehen schnell wieder weg, weil es peinlich ist und weil es niemand merken soll und auch meine Freundin soll es nicht merken, obwohl ich weiß, dass sie ihn auch immer ansehen muss.

    Was machst du, ruft meine Freundin, sie liegt im Badeanzug im Planschbecken und strampelt mit den Beinen, warum kommst du nicht ins Wasser, komm endlich, warum kommst du nicht, wohin gehst du, warum ziehst du dich wieder an, was …? – Ich habe das Gefühl des vergangenen Sommers noch im Körper, das Laufen und Springen und Lachen und Kreischen, den ganzen Sommer haben wir im Planschbecken verbracht. Langsam und mit vor der Brust verschränkten Armen gehe ich über den Rasen, ich spüre meine Oberschenkel gegeneinander reiben, spüre den dünnen Stoff des Badeanzuges, meine Brüste wackeln und ich möchte einen Pullover anziehen, einen dicken schweren Wollpullover, der Pullover muss lang sein und dick und unförmig, ein Zelt, das bis auf die Beine herabhängt, und mit einem Mal werde ich zornig auf meine Freundin, dass sie herumspringt und lacht und kreischt und dass sie schon wieder im Wasser ist, dass sie badet und mit Wasser herumspritzt wie im letzten Jahr und im Jahr davor und immer so weiter.

    Meine Freundin hat Geburtstag. Wir feiern mit Lampions und Würstchen und Völkerball und Brennball und Tauziehen und Sackhüpfen. Der Garten gehört uns. Ich laufe. Ich laufe so schnell ich kann, ich spüre den rasselnden Atem und das Zittern der Glieder und dann kann ich nicht mehr, ich lasse mich auf den Rasen fallen und höre mein Herz mit schnellen Schlägen gegen die Rippen pochen. Und ich spüre die Blicke. Ich spüre, wie der Vater meiner Freundin mich ansieht, wie er mir mit seinen Blicken folgt, bis ich beginne für ihn zu laufen, nur für ihn und gleichzeitig vor allen anderen. Mit einem Mal weiß ich, dass er dieses Fest für mich gemacht hat, dass der Geburtstag meiner Freundin ein Vorwand war, um dieses Fest zu machen, für mich, nur für mich; ein richtiges Fest, kein Kindergeburtstag, wie ich sie von zu Hause her kenne. Zwischendurch sehe ich vorsichtig zu meiner Freundin. Merkt sie, dass ihr Vater mich ansieht, dass ich für ihn laufe, nur für ihn?

    Wir duschen. Ich habe meine Freundin besucht, wir haben auf dem Pferd ihres Vaters geritten und jetzt duschen wir. Sie haben eine richtig große Dusche, in einer eigenen Duschkabine und nicht in der Badewanne wie bei meinen Eltern, mit einem Duschkopf direkt von der Decke. Da stehen wir; ich, die Freundin und ihr Vater. Nackt, alle drei. Es ist sehr schnell gegangen. Plötzlich standen wir alle drei nebeneinander unter der Dusche. Ihr Vater ist jung. Und groß und schlank und mit ganz vielen dunklen Haaren an den Beinen und am Geschlecht und auf der Brust. Und dann gibt es noch eine Haarlinie, die sich bis zum Bauchnabel hoch zieht. Ich muss ihn immer ansehen. Oder eigentlich muss ich sein Geschlecht ansehen, auch wenn ich so tue, als sähe ich es nicht.
    Ich habe noch nie mit einem nackten Mann zusammen geduscht. Ich habe noch nie einen nackten Mann gesehen, einen echten, nicht bloß auf Fotos oder Zeichnungen. Auch meinen Vater habe ich nie richtig nackt gesehen. Und das, was ich von ihm gesehen habe, sah anders aus. Nicht so schlank und muskulös und behaart.

    Die Wiese ist groß und bunt und dunstig, die Luft flimmert in der Sonne und ich pflücke Margeriten und Schafgarbe und Löwenzahn und Wicken und Kornblumen. Ich laufe von einer Blume zur nächsten, finde immer eine noch schönere, noch größere – der Boden ist uneben, voller Kuhlen und Rillen und Buckel, die unter den vielen Pflanzen nicht zu erkennen sind und die mich stolpern und wegknicken lassen, während ich weiter von Blume zu Blume springe und der Strauß in meiner Hand immer heißer und piksiger wird. Beim Abreißen schneiden die Blumenstängel in den Handteller und in die Gelenke der Finger, die Blumen sind zu kurz oder sie lassen sich nicht abbrechen, ich ziehe die Wurzeln mit aus dem Boden, trockene Erde staubt unter meinen Fingern und krümelt auf die Beine. Der Strauß sieht unordentlich aus, zerdrückt und borstig, meine Hände sind klebrig vom Pflanzensaft, das Gesicht und die Beine zerkratzt und erdig. Ich lasse die Arme fallen und gehe langsam wieder auf den Weg. Dann schleudere ich das zerdrückte Bündel zurück auf die Wiese.

    Ich sitze im Garten auf der Schaukel. Der Himmel ist grau und düster. Am Morgen hat es geregnet, der Rasen ist immer noch nass und in der freigetretenen Fläche unter dem Schaukelbrett hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Und es ist kühl geworden. Ich bewege langsam die Beine. Sobald ich ein wenig ins Schwingen gerate, halte ich wieder ein. Ich lasse mich auspendeln und sehe in die Rabatten. Dann strecke ich erneut die Beine. Als die Schaukel zu schwingen beginnt, höre ich wieder auf. Ich bin allein im Garten. Aus dem Haus ist nichts zu hören. Auch die Nachbargrundstücke sind ruhig.

    Auf dem Weg zur Bushaltestelle muss ich an der Eisdiele vorbeigehen. Es stehen immer Jugendliche davor. Oder sie sitzen auf den Einfassungen der Blumenkästen. Esssind nur wenige Schritte, ich nehme die Abkürzung über den Absperrbügel und dann stehe ich an der Bushaltestelle und sehe auf die Straße. Der Bus ist nicht zu sehen. Ich sehe auf meine Uhr und auf den Fahrplan und wieder auf die Straße, aber immer noch kommt kein Bus. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wie ich stehen soll, ich wechsle vom rechten aufs linke Bein, ich stecke meine Hände in die Hosentaschen und ziehe sie wieder heraus, meine Beine sind wie aus Gummi und der Bus kommt immer nicht und erst als er schließlich doch gekommen ist und ich endlich sitze und der Bus abfährt, drehe ich mich um und blicke zu den Jugendlichen, die immer noch vor der Eisdiele stehen. Jetzt sehen sie nicht mehr zur Bushaltestelle und dem Bus sehen sie auch nicht hinterher.

    Ich nehme ein altes Schulheft und reiße die beschriebenen Seiten heraus. Auf dem Etikett steht „Sachkunde“, und es steht mein Name da und die Klasse. Erst will ich es durchstreichen, aber ich weiß nicht, was ich stattdessen schreiben soll. Vielleicht ist es auch besser, wenn man nicht gleich sehen kann, was in dem Heft ist. Also schreibe ich nur „Schreibheft“ unter „Sachkunde“, klein und unauffällig. So ist es jedenfalls nicht falsch, auch wenn es mehr ums Schreiben geht als um Sachkunde.
    Dann fange ich an. Ich mache mir Notizen und ich schreibe einzelne Sätze. Manchmal sind es auch nur zwei drei Wörter. Wenn ich sie später lese, verstehe ich sie oft nicht mehr. Und ich schreibe Textanfänge. Ich habe immer Sehnsucht, zu schreiben. Die Sehnsucht ist dumpf und dunkel und sitzt tief in der Brust, wie ein Schmerz, der nicht vergehen will. Am schlimmsten ist es, wenn ich lese. Und auch wenn ich schreibe, ist sie immer da.

    Wir machen einen Familienausflug. Wir machen einen Spaziergang im Wald oder am Strand, wir sind lange mit dem Auto gefahren, und jetzt sind wir losgegangen. Die anderen gehen vorneweg und ich gehe hinterher. Ich sehe sie vor mir durch den Wald gehen oder am Strand entlang, ich kann ihre Fußspuren erkennen und manchmal höre ich auch ihre Stimmen. Doch ich verstehe nicht, was sie sagen. Wenn wir eine Pause machen, setze ich mich ein wenig abseits. Ich höre, dass sie sich unterhalten, aber auch jetzt verstehe ich nicht, worüber sie sprechen.

    Ich denke an die geheime Stelle am Teich. Man muss vorsichtig durch die Brennnesseln gehen und es gibt es den schmalen Weg durch das Schilf, so schmal, dass man von ihm wissen muss, um ihn zu erkennen. An seinem Ende liegt der kleine Strand. Ich setze mich in den Sand und sehe auf das glänzende Wasser. Da liegt auch die Flasche am Boden. Ich weiß es, aber sehen kann ich sie nur, wenn ich direkt von oben ins Wasser sehe.
    Eine Libelle fliegt über den Teich. Sie macht ruckartige und abrupte Flugbewegungen und sie sieht schön aus und fremd mit diesem grün schimmernden Körper und den bläulichen Flügeln. Wenn sie nah heran kommt, sieht sie unheimlich aus, ein gepanzertes Kriegsflugzeug, und groß ist sie auch und ich weiß nicht, ob Libellen stechen können oder beißen.
    Erscheint in: kolik, Zeitschrift für Literatur, Wien

  • Lorenz hat einen großen Bruder. Der heißt Malte.

    Malte hat immer riesengroße Hosen an. Und er muss immer chillen und dabei Musik hören. Und in den Haaren hat er Glibber.

    Tonnenweise. Sagt Lorenz.

    Blödsinn. Sagt Malte.

    Wegen Marie. Sagt Lorenz.

    Klappe halten. Sagt Malte.

    Da passiert es: Glibber tropft auf den Boden.

    Ihh, wie eklig. Sagt Lorenz.

    Quatsch. Sagt Malte. Und rutscht aus. Lorenz will ihn noch festhalten. Doch Malte ist schneller. Er glibbert einfach weg. Mit Lorenz.

    Die Treppe runter.

    Durch die Tür, mit Karacho.

    Auf die Straße.

    Da steht der Gehwagen von Frau Schulze. Den nehmen sie gleich mit. Frau Schulze natürlich auch. Und ihren Handtaschenhund und die Handtasche und den Regenschirm.

    Um die Ecke rum.

    Da steht eine Mülltonne. Die nehmen sie auch mit. Und den Müllmann noch dazu.

    Geradeaus.

    Da kommt ein fescher Kurier von der Seite. Der kommt ebenso mit. Mit seinem Fahrrad, versteht sich.

    Einen Berg hoch. (Jetzt beginnt Lorenz, sich über den Glibber zu wundern.)

    Da steht Marie. Auf Inlinern. Die nehmen sie erst recht mit. Marie also auch!

    Auf der anderen Seite des Berges wieder runter.

    Da ist ein Fluss.

    Groß. Breit. Wild. Mit einem Schiff, direkt vor ihnen. Das nehmen sie auch mit. (Oder nimmt das Schiff sie mit?)

    Mit fünfundfünfzig Matrosen, drei Maschinisten und einem Kapitän. Und einem Swimmingpool, weil Matrosen auch mal Pause machen. Unten im Schiff lebt außerdem ein Klabautermann. Aber den hat noch niemand so richtig sehen können.

    Der Müllmann springt gleich in den Swimmingpool. Und der Handtaschenhund von Frau Schulze springt hinterher.

    Frau Schulze bestellt sich einen Kaffee mit Rum. Und auch einen für den Kapitän, weil der so nett aussieht.

    Der fesche Kurier hat noch eine wichtige Verabredung und fliegt mit Frau Schulzes Regenschirm davon.

    Marie nimmt sich die Glibbertube, um endlich ihre Inliner zu schmieren.

    Und Lorenz und Malte setzen sich in eine Taurolle und erzählen den drei Maschinisten von ihrem Abenteuer. (Der Klabautermann hört heimlich zu.) Die Stadt wird immer kleiner. Und dann ist keine Stadt mehr zu sehen und dann ist auch kein Land mehr zu sehen und mit einem Mal ist es still: Frau Schulze und der Kapitän haben ihre Kaffeetassen abgesetzt, der Müllmann und der Handtaschenhund haben aufgehört zu schnauben und zu prusten, der fesche Kurier, der wieder zurückgeflogen war, schwingt lautlos an Frau Schulzes Regenschirm in der Luft und sogar der Wind hat aufgehört zu pfeifen und die Wellen schlagen nur noch leise plätschernd an die Bordwand. Lorenz und Malte sehen sich um.

    Zwischen den Tauen und Bodenluken und Rettungsringen gleitet Marie über das Deck. Mit den frisch geschmierten Inlinern. Wie schön sie aussieht!

    Keiner bewegt sich. Sogar der Klabautermann vergisst, weiter in der Nase zu bohren. (Aber das interessiert jetzt sowieso niemanden.)

    Aus: Volle Fahrt voraus! Das große Vorlesebuch der Elbautoren. Carlsen Verlag Hamburg 2021

H Ö R E N

von einem Esel träumen


PEN-Mitglieder lesen literarische Texte in Zeiten der Pandemie.


an die Liebe denke ich

Aus: „Am Erker“ – Zeitschrift für Literatur, Nr. 86 (Paarungen / Mixturen), April 2024. Audio veröffentlicht auf der Literaturline Münster, auch April 2024.